Mit dem Krieg in der Ukraine steht ein Stopp der Erdgaslieferungen aus Russland im Raum. Eine neue Web-Applikation des Forschungszentrums Jülich macht es möglich, die Folgen eines Embargos auf die deutschen Erdgasvorräte zu ermitteln. Welche Konsequenzen ein solcher sofortiger Erdgas-Stopp nach sich zöge, hat Dr. Leander Kotzur vom Institut für Energie und Klimaforschung (IEK-3) zudem in einem Statement für das Science Media Center Germany erklärt.
Die App des Forschungszentrums Jülich zeigt, wie sich verschiedene Gegenmaßnahmen unter Berücksichtigung der Erdgasspeicher auswirken. Sie berechnet, inwieweit zusätzliche Flüssiggas-Importe, etwa durch die Anlieferung mit Tankschiffen aus anderen Ländern, den Wegfall russischer Importe ersetzen können. Können Einschränkungen des Verbrauchs in Haushalten und der Wirtschaft dazu beitragen, ausgebliebene Gaslieferungen aus Russland zu kompensieren? Auch dieser Frage widmet sich die App.
Ein russisches Embargo würde ganz Europa treffen
Über 50 Prozent des Erdgases in Deutschland stammt aktuell aus Russland. Es ist damit Deutschlands größter Erdgaslieferant. Doch ein Stopp der russischen Importe wäre kein rein nationales Problem. Ein Embargo beträfe die gesamte europäische Erdgasversorgung. Diese ist bislang ebenfalls zu einem erheblichen Teil von russischen Importen abhängig und bezieht rund 45 Prozent des Erdgases aus Russland.
Die EU verfügt zwar über erhebliche Speicherkapazitäten, um kurzfristige Ausfälle auszugleichen. Doch langfristig wird ein Ausbleiben russischer Erdgasimporte nur durch geeignete Gegenmaßnahmen zu kompensieren sein.
„An diesem Punkt setzt das wissenschaftliche Tool No Stream an, das wir vor ein paar Tagen vorgestellt haben. Die Web-Applikation berechnet in stündlicher Auflösung, wie sich die europäischen Speicherfüllstände unter Berücksichtigung unterschiedlicher, frei wählbarer Gegenmaßnahmen bis zum Sommer 2023 entwickeln,“ erklärt Dr. Leander Kotzur.
Nachdenken über Gegenmaßnahmen
Zu diesen Gegenmaßnahmen zählen Einsparungen beim Gasverbrauch, wie sie sich durch Einschränkungen beim Heizen oder den Umstieg auf alternative Energieträger erzielen lassen. „Hier ist allerdings zu beachten, dass solche Einschränkungen in verschiedenen Bereichen und Industriezweigen nur in einem limitierten Maße möglich sind“, so Institutsleiter Prof. Detlef Stolten. Weiterhin besteht die Möglichkeit, ausbleibende russische Importe teilweise durch Erdgaslieferungen aus anderen Ländern wie Norwegen zu ersetzen und die Einfuhr von verflüssigtem Erdgas (LNG, engl. Liquefied Natural Gas), zum Beispiel aus den USA, Australien oder Katar, zu erhöhen.
„Die erste Version des Analysetools beruht hier im Detail noch auf einigen vereinfachenden Annahmen. So wird beispielsweise davon ausgegangen, dass LNG-Importe innerhalb der EU frei verteilt werden können und keine Pipelineengpässe bestehen. Das Analysetool wird aber kontinuierlich weiterentwickelt, um die Aussagekraft weiter zu erhöhen“, so Dr. Kotzur.